Sexueller Missbrauch in der Kindheit ist eine äußerst heikle Gesellschaftsproblematik, der viel zu wenig Aufmerksamkeit zukommt.
Leider kommt sexueller Missbrauch häufiger vor als man denkt, wird aber in vielen Fällen einfach totgeschwiegen. Es liegt jedoch in der Verantwortung jedes Einzelnen und der gesamten Gesellschaft sexuellen Kindesmissbrauch zu thematisieren, um einerseits über die Problematik aufzuklären und andererseits Betroffene vor psychischen Langzeitfolgen zu schützen.
Solange man Missbrauchsopfern kein Gehör schenkt, wird es immer wieder passieren, dass sich die Opfer nicht richtig entwickeln können und im schlimmsten Fall sogar in der Prostitution enden.
Sexueller Missbrauch von Kindern als gesellschaftliche Tabuzone
Leider kommt es immer wieder vor, dass sich Erwachsene, in den meisten Fällen Männer, an wehrlosen Kindern vergreifen und diese zu sexuellen Handlungen zwingen. Dabei nutzen sie einerseits ihre Machtposition und andererseits die Unterlegenheit des schutzbefohlenen Kindes schamlos aus. Des öfteren wird sexueller Missbrauch von außenstehenden Menschen mit Vergewaltigung gleichgestellt. Zwischen Kindern und Erwachsenen sind jedoch nicht nur oraler, analer und vaginaler Sex als Missbrauch zu verstehen, sondern auch alle anderen Handlungen eines Erwachsenen, die er mit der Absicht begeht sich vor dem Kind sexuell zu stimulieren.
Häufig reagieren Menschen auf das Thema Missbrauch mit Unverständnis, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand Kinder missbrauchen würde. Daher versuchen sie dem Problem einfach aus dem Weg zu gehen oder schlimmer noch, sie schauen einfach weg. Doch genau diese Haltung führt dazu, dass auch heute noch viele Missbrauchsopfer mit ihrem Problem ganz allein dastehen und niemanden haben, mit dem sie über den Missbrauch sprechen können. Jedoch ist die Hilfe von Erwachsenen und das Verständnis für die Opfer Grundvoraussetzungen, um die Betroffenen aus der Missbrauchsbeziehung zu befreien.
Obwohl mittlerweile klar ist, dass die wenigsten Fälle sexuellen Missbrauchs im fremden Umfeld des Kindes stattfinden, sondern die meisten Fälle innerhalb des engsten Familienkreises auftreten, gibt es doch immer noch Leugner dieser heiklen Thematik. In fast 90% der bekannten Fälle erfolgt die Gewalt durch Familienmitglieder, davon in fast ¼ der Fälle durch den eigenen Vater oder Stiefvater.
Da sexueller Kindesmissbrauch häufig in der Familie vorkommt und generell nicht alle Missbrauchsopfer Anzeige erstatten, gibt es eine hohe Dunkelziffer bei der tatsächlichen Anzahl der Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Durch Reihenbefragungen von Erwachsenen Frauen rechnet man in Österreich bei Mädchen unter 13 Jahren mit 2-5% Missbrauchsfällen, was circa 10.000 bis 25.000 Fällen im Jahr entsprechen würde. Im Gegensatz zu körperlicher Misshandlung, bei der beispielsweise öfter offensichtliche Verletzungen vorkommen, ist sexueller Kindesmissbrauch oft schwerer aufzudecken: Weil junge Mädchen, die bereits Jahre unter dem Missbrauch leiden, aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen oder der Angst vor dem Familienzerfall, nicht über den Missbrauch sprechen wollen. Hinzukommt der psychische Druck durch den Täter, der dem Kind immer wieder eintrichtert, dass es ein Verrat gegen ihn und die gesamte Familie wäre, wenn das Kind über den Missbrauch sprechen würde.
Häufig ist der sexuelle Missbrauch ein lebensbestimmendes, traumatisierendes Erlebnis
Die Folgen von Kindesmissbrauch können sich unterschiedlich äußern. Das zentrale Element, welches die Missbrauchsopfer besonders schädigt, umfasst die langzeitige Verwirrung, auf emotionaler, sexueller und kognitiver Ebene. Erstens wird das Kind durch die Vermischung der unterschiedlichen Rollen von Autoritätsfigur und sexuellem Partner verwirrt und desorientiert. Zweitens nimmt der Täter den Opfern durch das Verleugnen der sexuellen Handlungen, die Möglichkeit ihre Emotionen sinnvoll einzuordnen oder überhaupt zu begreifen. Da das Kind zusätzlich unter enormen Druck vom Täter steht die Geschehnisse geheim zu halten, wird das Kind mit seinen Ängsten allein gelassen und bleibt dem Täter somit hilf- und schutzlos ausgeliefert. Drittens wird dadurch auch das Vertrauen des Kindes enorm erschüttert. Durch fehlenden Glauben im nahen Umfeld der Opfer wird die Situation nur noch mehr erschwert. Viertens wird durch die Missachtung des Willens des Kindes und die Wiederholung der verletzenden Handlungen das Missbrauchsopfer mit Gefühlen der Hilfslosigkeit und des Ausgeliefertseins konfrontiert. Zudem kann es fünftens auch zu einer schweren Schädigung des Selbstvertrauens kommen, wenn das Kind beginnt sich die Gefühle der Scham, Wertlosigkeit und Schuld selbst zuzuschreiben.
Laut Einschätzungen einiger Experten ist der sexuelle Missbrauch umso schlimmer:
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desto größer der Altersunterschied zwischen Opfer und Täter
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desto Jünger das Missbrauchsopfer
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desto mehr verwandtschaftliche Nähe zwischen den Beiden besteht
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desto länger der Missbrauch andauert
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desto schlimmer die Gewaltandrohung während der Handlung
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desto ausgeprägter die Geheimhaltung
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desto weniger Vertrauen zu anderen schützenden Vertrauenspersonen besteht
Obwohl das Wissen über den Missbrauch in der Kindheit immer da ist, kann das Bewusstsein den Zugriff auf die traumatischen Erlebnisse verhindern, indem diese dissoziiert (=abgespalten) werden. Trotzdem tauchen immer wieder Erlebnisfetzen auf, die von den Opfern zeitlich und persönlich nicht einordenbar sind. Wenn ein traumatisierter Mensch jedoch durch Geräusche, Gefühle oder ähnliche Situationen „getriggert“ wird, erlebt er das traumatische Erlebnis erneut, gleich gefühlsintensiv als würde es in diesem Moment wirklich stattfinden. Weitere Folgen von sexuellem Kindesmissbrauch können sich in Ess- und Identitätsstörungen, Suchtproblemen, Bindungsängsten und der Unfähigkeit eigene Grenzen zu schaffen, abzeichnen. Zudem können auch aggressives sexuelles Verhalten und Prostitution Folgen von sexuellem Missbrauch darstellen.
Prostitution als Wiederholung erlebter Traumata
Vor allem in Bereichen der Prostitution finden sich viele Betroffene von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit: Wie eine Hamburger Studie unterstreicht, fanden sich bei 83% der Befragten Prostituierten bereits in der frühen Kindheit Trauma- Erfahrungen, darunter wiederum 48% sexuelle Missbrauchsfälle. Mittlerweile gibt es viele Studien darüber, dass kindliche Missbrauchserlebnisse viel häufiger zu Missbrauchsbeziehungen im Erwachsenenalter führen würden. Da stellen sich vermutlich viele Menschen die Frage: Was bringt Opfer sexuellen Missbrauchs dazu, sich immer wieder erneuten Misshandlungen auszusetzen?
Wertlosigkeit und Gewaltenthusiasmus
Bindungstheoretisch gesehen, hat der sexuelle Missbrauch für die Opfer schwere Folgen: Die Opfer passen sich an die Erwartungen des Erwachsenen an und prägen sich diese ein, während sie ihre eigenen Wünsche und Gefühle völlig in den Hintergrund stellen, bis sie unsichtbar werden. So geht jeglicher Selbstschutz verloren. Die Opfer nehmen die Gewalt des Täters einfach hin und im Verlauf ihrer Entwicklung kann es dann passieren, dass ihnen Formen von Gewalt fälschlicherweise das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Wie mittlerweile längst bekannt ist und schon oben erwähnt wurde, leiden die meisten Missbrauchsopfer unter schweren Schuld-, Scham- und Wertlosigkeitsgefühlen, die sie daran hindern sich selbst positiv wahrzunehmen. Leider entsteht so auch die Einstellung der Opfer „Ich bin nichts besseres wert.“ und „Selbsterniedrigung ist doch in Ordnung.“
Zusätzlich dazu verfallen Traumatisierte rascher in quälende Übererregungszustände, die sie möglicherweise dazu bringen, sich bewusst Gewalt auszusetzen, da es ihnen eine kurzzeitige Erleichterung von dem quälenden emotionalen Zustand verschaffen kann. Es konnte nachgewiesen werden, dass während traumatischen Erlebnissen eine endogene Opioid-Ausschüttung ausgelöst werden kann. Diese Ausschüttung wiederum hat beruhigende Wirkung auf die Opfer. Aus diesem Grund vertritt die biologische Traumaforschung auch die Ansicht, dass eine suchtartige Abhängigkeit von traumatischen Situationen entstehen kann.
Selbstverletzendes Verhalten
Selbstverletzendes Verhalten ist eine der Folgen von sexuellem Missbrauch und kann sich zum Beispiel auch in Form der Prostitution manifestieren. Die Reinszenierung, also Wiederholung, erlebter Traumata kann den Betroffenen vermeintlich das Gefühl geben, die Situation bei diesem Mal unter Kontrolle zu haben. Da sie bei früheren Missbrauchshandlungen nicht in der Lage waren sich zu wehren, befanden sie sich in diesem Augenblick in einer traumatischen Ohnmacht. Die bewusste Wiederholung des Ereignisses im späteren Verlauf und die Einwilligung in die Gewalt geben den Opfern dann das Gefühl die Macht wieder bekommen zu haben. In diesem Zusammenhang spielt das Abspalten von Gefühlen (Dissoziation) eine große Rolle. Dissoziationen helfen den Opfern Situationen, die mit Ekel oder Angst verbunden sind, leichter auszuhalten, in dem sie beispielsweise ihre Riechfähigkeit verlieren, damit die Opfer die Täter nicht mehr riechen und bewusst wahrnehmen können. Die stärkste Ausprägung einer Dissoziation wäre die multiple Persönlichkeitsstörung, bei der sich plötzlich eine einzelne Persönlichkeit in unterschiedliche Persönlichkeiten aufspaltet.
Freezing
Im Gegensatz zu Menschen, die keine Trauma-Erfahrung gemacht haben, sind traumatisierte Personen viel eingeschränkter in Bezug auf ihre Fähigkeit Stress zu regulieren. Sie geraden viel schneller in einen emotionalen Zustand, auch Freezing genannt, durch den ihre Handlungsfähigkeit enorm eingeschränkt wird. Bei diesem Zustand des „Wegtretens“, können die Betroffenen die Situation nicht mehr richtig wahrnehmen und sind nicht in der Lage sich anständig zu wehren, was sie für den Täter leider zu leichterer Beute macht. Generell konnte die Hirnforschung nachweisen, dass traumatische Erfahrungen zu hirnorganischen Veränderungen führen.
In einem Interview mit Therapeutin Ingeborg Kraus schildert eine ehemalige Prostituierte (Marie) ihre eigenen Erfahrungen mit der Prostitution und erzählt Erlebnisse aus ihrem nahen Umfeld. Sie berichtet auch von einer der schlimmsten Arten von Prostitution: „Gruppenvergewaltigung“ oder Foltertechniken, wie beispielsweise Waterboarding, die einer Kollegin ihrerseits bereits widerfahren sind. Denkt man nun an ein traumatisiertes Missbrauchsopfer, dass einem Haufen aufgegeilter Männer gegenübersteht, die für eine Gangbang-Party bezahlt haben, könnte die Betroffene ausgelöst durch eine Dissoziation in eine völlige Handlungsstarre verfallen. Was für die Männer, die sowieso nur ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen wollen, nicht weiter von Bedeutung ist, möglicherweise nicht einmal weiter wahrgenommen wird und schlussendlich als erledigter Job abgehakt wird, fühlt sich für die Betroffene in diesem Moment trotzdem wie eine wiederholte Vergewaltigung an.