Alles fing mit Susan an, einer jungen nigerianischen Frau. Ihre Geschichte beginnt ähnlich wie die von Joana, aus unserem letzten Artikel. In ihrem Heimatdorf lerne Susan Ivy kennen, die ihr eine gutbezahlte Arbeit in Europa versprach. Susan willigte ein, doch da sie keine Papiere hatte, wurde sie bei ihrer Ankunft in Italien direkt in ein Auffanglager für Flüchtlinge gebracht und sollte abgeschoben werden. Mithilfe einer Beraterin der NGO Be Free erhielt sie die Möglichkeit Asyl zu beantragen. In diesem Artikel erzählen wir, was danach passierte und wie Susan sich erfolgreich vor Gericht gegen das grausame System wehrte.
der Beginn einer bedeutenden Geschichte
Seit 2015 sind ca. 21.000 nigerianische Frauen an Italiens Küsten angekommen. Die internationale Organisation für Migration der UN schätzt, dass 80% von ihnen direkt von Menschenhandel und Zwangsprostitution betroffen oder gefährdet sind.
Da Ivy die einzige Person war, die Susan in Italien gut zu kennen glaubte, freute sie sich über eine Kontaktaufnahme im Auffanglager. Wenige Tage später holte Ivy Susan ab und brachte sie in eine Wohnung in der Nähe von Florenz. Dort wohnten bereits vier andere nigerianische Frauen. Eine von ihnen kam dann jedoch mit High-Heels und einem Minirock in der Hand auf Susan zu und meinte „Auf geht’s. Wir müssen arbeiten“. Susan glaube noch an einen bösen Scherz - doch Ivy entpuppte sich als eine Madame (weibliches Äquivalent zu einem Zuhälter).
Susan musste danch jeden Tag raus auf die Straße, egal ob sie ihre Periode hatte oder krank war. Brachte sie zu wenig Geld zur Madame wurde sie geschlagen. „Das Schlimmste war, dass ich in dieser ausweglosen Situation festsaß und noch nicht einmal Geld nach Hause zu meiner Familie schicken konnte“.
Der Entschluss auszubrechen
Susans anfängliche Verzweiflung wich einer entschlossenen Wut und sie begann alles zu dokumentieren. In ein kleines, geheimes Notizbuch schrieb sie Telefonnummern, Gesprächsprotokolle und sogar Namen. Es gelang ihr sogar versteckt Bilder von Ivy zu schießen. Als die Madame einmal auf Reisen ging, floh Susan und brach in das entfernte Rom auf. Dabei gelang es in Kontakt mit jener Sozialhelferin zu kommen, die ihr im Flüchtlingslager damals bei ihrem Asylantrag helfen wollte. Susan händigte dem Team von Be Free ihr Notizbuch aus. Sie wurde in ein Frauenhaus gebracht und ihre Aussage von der Polizei vernommen. Ungefähr ein Monat nach ihrer Flucht wurde Susans Mutter in Nigeria überfallen. Die Täter hinterließen eine Nachricht: Susan, komm zurück zu deiner Madame.
Die erste Schwierigkeit bei der Strafverfolgung besteht darin, dass viele Frauen sich nicht an Orte oder Namen von Personen erinnern können, sodass sie nicht immer als glaubhaft angesehen werden. Selbst wenn ihnen geglaubt wird müssen die drei Elemente des Menschenhandels nachgewiesen werden: Anwerbung, Transfer und Ausnutzung. Diese internationalen Ermittlungen zu organisieren ist extrem schwierig. Oft gehören die Täter zu Menschenhandelsnetzwerken und arbeiten dabei direkt mit anderen kriminellen Organisationen zusammen.
Die Mafia-Abteilung übernimmt den Fall
„Menschenhandelsnetzwerke sind ähnlich komplex wie die Mafia“, erklärt die zuständige Staatsanwältin Pietroiusti. Dank Susans detaillierten Informationen konnte mit dem Abhören der Täter begonnen werden. „Die Informationen die wir von den Abhörprotokollen bekommen sind für die Ermittlung sehr wichtig. Sie geben uns einen Einblick, welchem Grauen die Mädchen täglich ausgesetzt sind. Vergewaltigung, erzwungene Abtreibungen - und davon mehrere tausend Seiten protokolliert.“ Es dauerte über ein Jahr, um genug Beweise für einen Haftbefehl zu bekommen und zwei weitere bis ein Richter diesen unterschrieb. Nach vielen tausend Stunden Ermittlungen der Staatsanwältin wurden letztendlich vier Madames verhaftet für den Menschenhandel von 17 jungen Frauen aus Nigeria. Verurteilt wird nur ein Bruchteil der bekannten Täter.
In Fällen von Menschenhandel benötigen die Zeugen sowohl physische Sicherheit, wie ein Schutzhaus mit einer geheimen Adresse, und psychische Unterstützung. Einige Überlebende haben so viel Angst, dass sie die Zwangsprostitution abstreiten, selbst wenn ihnen Beweise präsentiert werden. Um den Prozess weniger traumatisch zu machen, reist Pietroiusti lange Wege, um die Frauen in ihren Schutzhäusern zu vernehmen. „Je weniger Befragungen stattfinden, desto besser. Es ist sehr schwierig für sie. Und egal wie sehr man sie bittet die Unterredung für sich zu behalten, es entstehen Gerüchte und schon wird bekannt, dass es eine Ermittlung gibt.“
Beim Abhören der Wohnung, in der Susan einmal leben musste, konnte eine minderjährige Nigerianerin identifiziert werden. Der Polizei gelang es, sie auf der Straße anzuhalten und in ein Schutzhaus für Jugendliche zu bringen. Doch sie hatte Angst allein zu sein und rannte zum einzigen Menschen, den sie in Italien gut kannte, ihre Madame. Da viele Opfer keine Dokumente haben und der Polizei nicht vertrauen, sind sie noch abhängiger von den Menschenhändlern. Auch beim zweiten Versuch sie in Sicherheit zu bringen, rannte das Mädchen weg. Die Madame ließ sie daraufhin nach Frankreich bringen und die Polizei verlor jede Spur von ihr. Pietroiusti erinnert sich noch heute daran. „Es sind genau solche Fälle, die mich nachts nicht einschlafen lassen“.
Während der Anhörung vor Gericht machte Susans zusammen mit neun anderen Überlebenden eine Aussage. Im Warteraum herrschte große Aufregung und plötzlich bekam eine der Frauen Kopfweh. „Es ist der Juju-Schwur. Er wirkt und ich werde sterben, wenn ich aussage“, schrie sie. Die Anderen bekamen daraufhin ebenfalls Angst. Da die Anwältin sich mit den Traditionen gut auskannte, konnte sie jedoch auf ihrem Handy eine Zeremonie von einem Priester zeigen, der den Schwur aufhob - und die Situation dadurch etwas deeskalieren.
Das Ende einer langen ermittlung
Der eigentliche Prozess begann erst fünf Monate später. Die vier Angeklagten wurden zu insgesamt 45 Jahren Haft verurteilt und Susan sollte 80.000€ als Kompensation bekommen. Die Chancen stehen jedoch schlecht, dass sie das Geld jemals bekommen wird - die Täter senden die Profite in der Regel ins Ausland, sodass davon in Europa nichts übrig bleibt. Nicht alle Menschenhändler, denen Susan begegnet ist, wurden verurteilt, da nicht alle identifiziert werden konnten. Aber für Susan war Ivys Verurteilung schon mehr als sie zu hoffen gewagt hatte.
Vier Jahre nachdem Susan floh und Strafanzeige erstattete, ist ihre Zukunft ungewiss. Sie hat immer noch keine Arbeitserlaubnis und wartet auf die Bearbeitung ihres Asylantrages. Die Organisation Be Free hilft ihr beim Kampf in Italien zu bleiben und sich endlich ein eigenes Leben aufzubauen. Als Kronzeuge des Prozesses wäre es für sie viel zu gefährlich, in ihr Heimatland zurückzukehren.
Die wahnsinnig mutige Geschichte von Susan wurde im August in einem Artikel des Guardian veröffentlicht. Obwohl sie zur Polizei gegangen ist und viele Beweise während ihres traumatischen Alltages gesammelt hatte, dauerte es über drei Jahre bis es zu einer Verurteilung kam. Dabei hatte sie noch Glück: Viele ähnliche Fälle werden vom Gericht abgelehnt. Oft fehlen Beweise oder die Verurteilungen beziehen sich nur auf kleinere Delikte, sodass eine Haftstrafe ausbleibt. In Österreich ist die Situation leider nicht viel besser als in Italien. Auch hier sind Verurteilungen von Kriminalfällen rund um den Menschenhandel sehr selten.
Der Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung ist nicht vorbei - aber mutige Frauen wie Susan zeigen, dass es sich lohnt, täglich aufs Neue für Gerechtigkeit einzutreten.